Die "Odyssee"

2. Teil

Wir gelangten zur einer Insel, auf der Aiolos, der Herrscher der Winde, mit seiner Familie lebte. Er nahm uns freundlich für einen Monat auf. Er hatte schon vom Kampf um Troja gehört, aber wir mussten ihm ausführlich von den Ereignissen erzählen, an denen wir selbst teilgenommen hatten. Er wollte alles ganz genau wissen und wollte uns nicht gern gehen lassen.
Wir beschlossen aber, unsere Fahrt fortzusetzen, und ich bat Aiolos, uns gehen zu lassen. Zum Abschied gab er uns in Schläuchen alle Winde mit, die uns bei der Heimreise behilflich sein sollten. Aiolos erklärte mir, dass wir beim Öffnen der Schläuche sehr vorsichtig sein sollten. Dem Wind Zephyros befahl er, uns zu begleiten.
9 Tage und Nächte legten wir ruhig zurück und erblickten am 10. Tag die Ufer von Ithaka.
Ich schlief vor Müdigkeit ein, aber meine Gefährten öffneten heimlich die Schläuche mit den Winden, weil sie dachten, sie würden darin viele Kostbarkeiten finden.
Die Winde strömten aus den Schläuchen heraus und trieben uns 6 Tage und Nächte über das Meer.
Am 7. Tag gelangten wir in der Land der Laistrygonen. Die riesigen Laistrygonen begannen, riesige Felsbrocken auf uns zu werfen. Mein Schiff blieb als einziges heil, die übrigen wurden versenkt, die Gefährten ertranken.
Bald erreichten wir die Insel Aiaia, wo die verführerische Zauberin und Halbgöttin Kirke herrschte. Ich teilte meine Gefährten in zwei Gruppen auf. Die eine Abteilung befehligte ich, die andere der kühne Heerführer Eurylochos.
Eurylochos macht sich auf den Weg mit 22 Männern. In einem hohen Haus erblickten sie eine schöne Frau. Auf ihre Einladung hin betraten alle das Haus. Nur Eurylochos, der etwas Böses ahnte, blieb draußen.
Sie gab ihnen Wein zu trinken, in den sie ein Zauberkraut gemischt hatte, damit die Erinnerung an das geliebte Vaterland bei ihnen erlosch.
Sie jagte alle in den Schweinestall und verwandelte sie in Schweine.
Voller Kummer eilte Eurylochos zu mir und berichtete, was den Gefährten zugestoßen war.
Da nahm ich mein Schwert und ging in den Wald, der sich in der Nähe von Kirkes Haus befand.
Dort stand plötzlich Hermes vor mir, der die Gestalt eines schönen jungen Mannes angenommen hatte. Er begrüßte mich und sagte: "Halt! Geh nicht weiter! Ich möchte dich vor dem Schicksal deiner Gefährten bewahren. Nimm diese Zauberwurzel, sie wird dich vor der Zauberin schützen, und du kannst deine Gefährten befreien."
Ich nahm die Wurzel, gegen die Kirke machtlos war. Sie bestrich alle Schweine mit einer Salbe, und sie verwandelten sich wieder in Menschen. Bevor wir weiterfuhren, warnte mich Kirke vor weiteren Gefahren, die uns erwarteten.
Wir kehrten zur Küste zurück. Wir schoben unser Schiff ins Wasser und wir fuhren mit günstigem Wind schnell davon.
Bald erblickten wir wieder eine Insel. Als wir näher kamen, merkten wir, dass es die berüchtigte Insel der Sirenen sein musste, von der Kirke gesprochen hatte.
Die Sirenen fangen dort die dicht an ihrem Ufer vorbeifahrenden Seefahrer. Wer ihren wunderbaren Gesang hört, der kehrt niemals wieder nach Hause zurück. Haufen von bleichenden Menschen-knochen lagen auf dieser Insel umher.
Ich verstopfte meinen Gefährten die Ohren mit weichem Wachs. Ich selbst ließ mich fest an den Mast binden. Umsonst lockten mich die Sirenen mit ihrem süßen Gesang. Nur ich hörte dieses Singen, doch ich konnte mich nicht bewegen.
Die Insel der Sirenen blieb hinter uns. Plötzlich erblickte ich Wasserdampf und brodelndes Wasser in einer Meerenge. Nicht weit davon standen zwei Felsen.
Dort auf dem einen Felsen hauste die 12-beinige Skylla, ein schreckliches Ungeheuer; ihr Körper lag in einer dunklen Höhle, und sie hatte 6 Köpfe mit Rachen voller Zähne, ihre Fangarme reichten bis unter den Felsen, der vom Meer überspült war. Die Zauberin Kirke hatte mich auf diese Gefahr hingewiesen.
Unter dem gegenüber liegenden Felsen, versteckt hinter einem großen Feigenbaum, hauste ein anderes Ungeheuer, die Charybdis. Mit ihrem ungeheuren Rachen saugte sie dreimal am Tag eine riesige Menge Wasser ein und spuckte sie dreimal am Tag wieder aus. Vor diesem Ungeheuer hatte mich Kirke besonders gewarnt. Der Charybdis sollte ich auf jeden Fall ausweichen.
Ich hatte die Wahl zwischen zwei Übeln: der Skylla auf der einen Seite und der Charybdis auf der anderen. Ich lenkte mein Schiff näher zum Felsen der Skylla. Sechs meiner besten Seefahrer wurden von dem Ungeheuer verschlungen, doch durch den Verlust dieser Männer rettete ich die übrigen vor dem Untergang.
Bald, nachdem wir Skylla und Charybdis hinter uns gebracht hatten, erblickten wir eine Insel. Dort herrschte der Sonnengott Helios. In den Ebenen weideten friedlich die Herden dieses Gottes. Ich wandte mich an meine Gefährten: "Ihr müsst wissen, dass der Sonnengott über diese Insel herrscht. Ihr dürft hier auf keinen Fall einen Stier oder einen Hammel schlachten." Alle schworen, die Herden nicht anzurühren.
Nachdem wir an Land gegangen waren, schlief ich ein. Da vergaßen meine Gefährten ihren Schwur und begannen, Stiere zu schlachten uns sie am Spieß zu braten. Sechs Tage lang schmausten sie. Am 7. Tag fuhren wir ab, doch Zeus bestrafte uns mit einem schweren Sturm.
Ein Meeresstrudel verschlang alle meine Gefährten und das Schiff. Ich hielt mich an einem Stück des Mastbaums fest und entkam so dem Tode.
Ich wurde auf die Insel der Nymphe Kalypso verschlagen. Sieben Jahre hielt mich die Nymphe in ihrer Gewalt, weil sie hoffte, mich zu ihrem Mann zu machen. Doch auf Befehl der Götter ließ sie mich schließlich gehen.
Ich baute ein Floß und ließ mich über das Meer treiben, doch Poseidon zerstörte in seinem Zorn mein Floß, und die Winde trieben mich zu eurem Land."
So endete die Erzählung des Odysseus. Alle Zuhörer waren sehr beeindruckt von seiner Geschichte und bedankten sich. Odysseus bedankte sich bei dem König und der Königin für die freundliche Aufnahme.
König Alkinoos wandte sich an die anwesenden Heerführern der Phaiaken: "Ich fordere alle Heerführer der Phaiaken auf, mir zu gehorchen. Wir werden dem Gast helfen und ihn zur Insel seiner Väter bringen."
Am nächsten Morgen verabschiedete sich Odysseus sehr herzlich von Nausikaa und versprach, auf Ithaka immer an sie zu denken.
Viele kostbare Geschenke trugen die Phaiaken für Odysseus herbei. Dann brachten sie ihn an Bord eines neuen Schiffes. Junge Männer setzten sich an die Ruder. Odysseus schlief bald auf dem Lager ein, das man für ihn vorbereitet hatte.
Als man die Insel Ithaka erreicht hatte, trugen die Ruderer den schlafenden Odysseus und die Geschenke ans Ufer. Sie selbst fuhren schnell wieder los, weil sie den Zorn Poseidons fürchteten.
Odysseus erwachte, und sogleich trat die Göttin Athene zu ihm in der Gestalt eines Hirten. Sie riet ihm, die Schätze in einer nahen Grotte zu verstecken und sich vorsichtig zu erkundigen, was für eine Lage ihn zu Hause erwarten würde. Athene berührte ihn mit ihrem Stab.
Da fielen die Haare von seinem Kopf, und seine Haut bekam Runzeln. Mit dem Aussehen eines alten Bettlers gelangte er in die Stadt.
Zuerst ging er in das Haus des treuen Schweinehirten Eumaios. Dorthin kam bald Telemachos, der zu einem schönen jungen Mann herangewachsen war. Odysseus freute sich über das Wiedersehen und vertraute seinem Sohn sein Geheimnis an.
Telemachos umarmte seinen Vater und erzählte voller Empörung, dass schamlose Freier seinen Besitz verprassten und dass sie Penelope zwingen wollten, einen von ihnen zu heiraten.
Odysseus antwortete dem Sohn: "Geh jetzt an den Hof und halte die Nachricht über meine Rückkehr geheim. Morgen werde ich selbst kommen, verkleidet als armer Bettler. Dann werden wir mit den Freiern abrechnen."
Früh am Morgen, als die Mörgenröte zu leuchten begann, ging Odysseus in seinen Palast, gestützt auf einen Stab. In der Gestalt des alten Mannes erkannten ihn die Freier nicht. Sie feierten wie üblich ein Gelage und warteten auf die Antwort der Königin.
Doch Penelope hatte sich eine List ausgedacht. Sie hatte beschlossen, ein Tuch zu weben, und hatte den Freiern versprochen, ihnen eine Antwort zu geben, wenn sie ihre Arbeit beendet habe. Drei Jahre lang war es ihr gelungen, am Tage zu weben und in der Nacht das gewebte Stück wieder aufzulösen. Doch schließlich erfuhren die Freier von ihrer List durch eine untreue Dienerin.
Penelope ersann eine neue List. Sie holte den starken Bogen des Odysseus hervor und sagte, dass sie den heiraten werde, der den Bogen spannen und mit einem Pfeil durch die Ösen von 12 Äxten schießen könne.
Die Freier begannen einen Wettstreit, doch vergeblich versuchten sie, den starken Bogen zu spannen, ihre Kräfte reichten dazu nicht aus.
Da bat der alte Bettler um die Erlaubnis, seine Muskeln erproben zu dürfen. Die Freier lachten über ihn, ließen ihn aber gewähren. Im Nu spannte Odysseus die Sehne des Bogens und schoss einen Pfeil durch die Ösen der Äxte.
Da erkannten die Freier Odysseus. Zitternd vor Angst, versuchten alle zu fliehen, aber es gab kein Entkommen, weil die Eingänge versperrt waren.
Nachdem er seine Lumpen abgeworfen und seine ursprüngliche Gestalt wiedergewonnen hatte, begann Odysseus mit seinem mächtigen Bogen, auf die Freier zu schießen, mit jedem Pfeil traf er einen von ihnen. Und Telemachos durchbohrte sie mit seinem scharfen Speer. Sie töteten alle unverschämten Freier im Palast.
Da erkannte Penelope endlich ihren geliebten Mann. Weinend vor Glück umarmte sie ihn. Auch er weinte und freute sich über seine treue Frau. Lange führten sie ein stilles und zärtliches Gespräch.
Währenddessen wurde die Nachricht über das Schicksal der Freier in der Stadt verbreitet. Mit lautem Geschrei versammelte sich vor dem Palast eine Menge, um sich an Odysseus für den Tod der Verwandten zu rächen.
Doch auf Befehl von Zeus flog die Göttin Athene nach Ithaka. Sie rief dem Volk zu: "Halt! Hört auf mit dem brudermordenden Kampf! Vergießt nicht unnütz weiteres Blut und beendet die Feindschaft."
Alle wandten sich zur Flucht, von Schrecken ergriffen. Odysseus stürzte hinterher, doch ein feuriger Blitz schlug vor ihm in die Erde, und die Göttin befahl, den blutigen Kampf auf ewig zu beenden, damit Zeus nicht zornig wurde.
Freudig unterwarf sich Odysseus ihrem Willen. Dank Pallas Athene trat bald Friede ein zwischen Odysseus und dem Volk.

Ende